Ein Gespräch mit Giuliano Sommerhalder: Über Virtuosität, Resilienz und die Zukunft der Musik

Jede neue Folge von Penthesilea on Air erinnert mich daran, warum ich diese Gespräche so schätze: Sie eröffnen mir nicht nur den Blick auf die künstlerischen Ansätze meiner Gäste, sondern auch auf die menschlichen Geschichten, Herausforderungen und Visionen, die sie prägten. Mein jüngstes Gespräch mit Trompeter Giuliano Sommerhalder war genau das – eine inspirierende Reise durch die Höhen und Tiefen eines Lebens für die Musik.

Sein Werdegang liest sich wie ein Traum: internationale Wettbewerbsgewinne bereits als Teenager, ehemaliger Solotrompeter des Leipziger Gewandhausorchesters und des Royal Concertgebouw in Amsterdam, heute beim Orchestre de la Suisse Romande in Genf, daneben unzählige Solo- und Kammermusikprojekte sowie eine rege Lehrtätigkeit. Doch was mich am meisten beeindruckte, war nicht die Liste seiner Erfolge, sondern seine Offenheit, seine Bescheidenheit und sein Wille, neu zu definieren, was es heute heißt, Musiker zu sein.

Orchesterleben: Traum und Realität

Wenn Giuliano über das Orchester spricht, spürt man zugleich seine Leidenschaft und seinen Realismus. Als junger Musiker träumte er davon, mitten in einer Mahler- oder Bruckner-Sinfonie zu sitzen, umgeben vom Klang. Dieser Traum erfüllte sich – doch er brachte auch Herausforderungen mit sich.
So erzählte er von einer Japan-Tournee mit Bruckners Vierter, bei der ihn eine widerspenstige Note aus dem Konzept brachte. Das Erlebnis endete mit einer ausführlichen Standpauke von Riccardo Chailly – und einer wertvollen Lektion darüber, wie wichtig die richtige Materialwahl je nach Situation ist. Anstatt ihn zu entmutigen, lehrten ihn solche Momente, nach Lösungen zu suchen und Werkzeuge zu finden, die ihn nicht im Stich lassen.
Gleichzeitig beschreibt er das Orchester als eine „lebendige Meisterklasse“: Umgeben von herausragenden Musikern, Tag für Tag inspiriert von Solisten und Dirigenten, wird einem klar, so Giuliano: „Das eigentliche Studium beginnt erst, wenn man ins Orchester kommt.“

Scheitern als Wegweiser

Ein zentrales Thema unseres Gesprächs war der Umgang mit der wachsenden Zahl an Aufnahmen, die Studierende heute für Probespiele und Wettbewerbe einreichen müssen – verstärkt seit der Pandemie. Giuliano warnte davor, sich in der Jagd nach dem „perfekten Take“ zu verlieren. Jurys, erinnerte er, interessieren sich nicht für Perfektion, sondern für Musik: Intonation, Phrasierung, Rhythmus, Stil.
Besonders berührte mich seine Offenheit über das Scheitern. Oft, so gestand er, habe er aus den Momenten, die misslangen, mehr gelernt als aus jenen, die reibungslos verliefen. Eine Sichtweise, die ich uneingeschränkt teile – schließlich wachsen wir oft dort am meisten, wo wir stolpern.

Unterrichten und tägliche Rituale

Einen starken Eindruck hinterließ das Bild, das er seinen Studierenden vermittelt: Sie sollen sich vorstellen, während eines Probespiels in die Musik einzutauchen – fast so, als setzten sie eine VR-Brille auf. Jede Orchesterstelle wird dadurch zu einer eigenen Welt, einem Universum, das die Jury einlädt, die ganze Bandbreite der Persönlichkeit und Ausdruckskraft des Musikers zu erleben.
Schmunzeln ließ mich auch sein Bekenntnis, dass seine Übepraxis „extrem unstrukturiert“ sei. Statt starrer Pläne hört er auf seinen Körper und arbeitet vor allem an Klang, Resonanz und langsamen Übungen. Eine Erinnerung daran, dass Disziplin nicht zwangsläufig Strenge bedeutet – sondern auch Achtsamkeit für die eigenen Bedürfnisse.

Blick nach vorn

Überraschend war Giulianos Geständnis, dass er einen Traum hegt, selbst zu dirigieren. Leidenschaftlich sprach er davon, wie wichtig es sei, dass Dirigenten „mit den Musikern atmen“ und offen für Feedback bleiben. Dabei wurde deutlich, wie viel Empathie und Verständnis er in jede Rolle einbringt.
Noch größer als dieser Traum ist jedoch seine Vision einer Demokratisierung der Musikausbildung. Er selbst hatte das Privileg, früh Zugang zu hochkarätiger Förderung zu erhalten – und er wünscht sich, dass solche Möglichkeiten künftig weltweit verfügbar sind, gerade in Regionen, in denen Talent reichlich vorhanden, der Zugang aber begrenzt ist.

Dankbarkeit für die Musik

Was mir von unserem Gespräch am stärksten im Gedächtnis blieb, war Giulianos Erinnerung daran, wie viel Glück wir Musikerinnen und Musiker haben. Allzu leicht verliert man sich in Ängsten, Selbstzweifeln, im ständigen Vergleich oder in der Routine des Orchesteralltags. Am Ende jedoch haben wir uns entschieden, unser Leben einer zutiefst schönen Sache zu widmen.
Dieses Gespräch ließ mich mit tiefer Dankbarkeit zurück – für das Privileg, Musik machen zu dürfen, sie mit anderen zu teilen und für Begegnungen wie diese, die mich daran erinnern, warum ich mich entschieden habe, ihr mein (nicht nur) berufliches Leben zu widmen.
Giuliano Sommerhalders Weg erzählt weit mehr als die Geschichte eines Trompeters: Es ist eine Geschichte von Resilienz, Vorstellungskraft und dem Glauben daran, dass Musik - im Konzert oder in der Ausbildung - allen zugänglich sein sollte.

🎧 Die komplette Folge kannst du hier anhören:

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Variablen einer künstlerischen Identität - ein Gespräch mit Diplom-Psychologin Heidi Brandi